branayama

Ursula Hertel war 15 Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Heute, mit fast 98 Jahren, teilt sie ihre Geschichten und Gedanken darüber, wie man trotz aller Widrigkeiten flexibel bleiben kann, um ein erfülltes und glückliches Leben zu führen.

Ursula Hertel war 15 Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Heute, mit fast 98 Jahren, teilt sie ihre Geschichten und Gedanken darüber, wie man trotz aller Widrigkeiten flexibel bleiben kann, um ein erfülltes und glückliches Leben zu führen.

Als wir vor ein paar Monaten unsere Kampagne zum Internationalen Frauentag im März planten, sah die Welt noch ganz anders aus. Wir sahen langsam und endlich das Licht am Ende von Covid. Die Tage wurden heller und wir waren voller Hoffnung und haben uns darauf gefreut wieder an ein normaleres Leben zu denken. Wir hatten geplant die vielen großartigen Frauen in unserem Leben vorzustellen und darüber zu sprechen, dass Frauen einen so großen und positiven Einfluss auf die Welt haben, in der wir heute leben. Wir hatten Ursula für unsere monatliche branamama-Interviewserie interviewt, weil sie während des Zweiten Weltkriegs zur Frau wurde und viele Hürden überwunden hat, um die zu werden, die sie heute ist. 

Unsere Kampagne hat nie stattgefunden. Unsere Augen und Herzen waren woanders. Unsere Bemühungen und Ressourcen wurden bei den Millionen Menschen gebraucht, die versuchten zu überleben und von ihrem zu Hause in der Ukraine in Sicherheit zu fliehen. Vor allem die Frauen. Vor allem die Mütter. 

Heute haben wir endlich unser Interview mit Ursula veröffentlicht. Wir halten es für wichtig ihre Geschichte von Hoffnung, Stärke und Licht in Zeiten wie diesen mit unserer Community zu teilen. Wir hoffen, dass ihre Geschichte Frauen überall inspiriert und ihnen Kraft und Mut geben kann. 

Am Ende dieses Interviews haben wir die "Be An Angel Foundation" verlinkt, eine Initiative von Menschen aus den Bereichen Medien, Kultur und Marketing, die sich gemeinsam mit ihrem Netzwerk für die nachhaltige Integration von Menschen mit Fluchtgeschichte einsetzen. Derzeit arbeiten sie aktiv daran, Menschen (meist Frauen und Kinder) aus den Gefahrenzonen in der Ukraine herauszuholen. 


Hallo liebe Oma Ursel, wir freuen uns sehr, dass wir mit dich als die Frau mit der wohl meisten Erfahrung für unsere Branamama-Serie zu interviewen. Du bist Lehrerin, Mutter von zwei Töchtern, Großmutter von drei Kindern und Urgroßmutter meiner eigenen Tochter. Und du feierst in diesem Jahr deinen 98. Geburtstag. Wir würden gerne wissen - wie hast du die letzten Tage verbracht? 

Die letzten Tage waren wunderbar sonnig hier in Süddeutschland, sodass ich fast den ganzen Tag lesend in meinem Liegestuhl verbringen und die ersten Frühlingstage verbringen konnte. Außerdem begleitet mich meine Betreuerin, wenn ich täglich eine halbe Stunde mit meinem Collator spazieren gehe. Aber natürlich lassen mich bei all der scheinbaren Leichtigkeit die aktuellen Ereignisse nicht kalt. Der Krieg in der Ukraine und die Situation der Menschen hat mich schwer erschüttert. Ich selbst habe als fünfzehnjähriges Mädchen hautnah miterlebt wie Hitler 1939 in Polen einmarschiert ist und den Krieg begonnen hat. In den letzten Tagen sind auch bei mir viele Erinnerungen wieder aufgekommen, welche Erschütterung und Entbehrung uns die zwölf Kriegsjahre damals gebracht haben. Ich fühle mit allen Menschen in der Ukraine.

Wie war es für dich während des Zweiten Weltkriegs aufzuwachsen und was waren die Erwartungen an junge Mädchen in dieser Zeit? 

Ich wurde in dem Dorf Maltsch in Niederschlesien, im heutigen Polen, als eines von vier Kindern geboren. Dort habe ich vier Jahre lang die Dorfschule besucht und später das Gymnasium in einem Internat bei evangelischen Diakonissen, wo ich auch das Abitur absolviert habe. 

Ich war sehr privilegiert und gehörte damals zu den 1% der Mädchen, die eine weiterführende Schule besuchen konnten, denn üblicherweise war die Volksschule nach acht Jahren beendet und Mädchen wurden zum Beispiel Hilfsarbeiterinnen in einer Fabrik oder arbeiteten im Haushalt wohlhabender Familien. Die Idee war, dass sie dort etwas für ihren eigenen Haushalt lernen, den sie später führen sollten. Eine Lehre oder eine fachliche Ausbildung gab es damals noch nicht.

Als Hitler den Krieg begonnen hat, war ich fünfzehn Jahre alt und wurde gerade von einem jungen Mann auf einem Ball unter der Aufsicht meiner Eltern zum Tanzen aufgefordert, als uns die Nachricht erreichte. Wir waren von der Kriegserklärung schockiert, ich war ein 15-jähriges Teenager-Mädchen und zu diesem Zeitpunkt voller Pläne und Ziele und hatte natürlich ganz andere Dinge im Kopf.

Mein großer Traum war es, Chemie zu studieren, so wie mein Großvater und mein Vater vor mir. Aber daraus ist dann durch den Krieg nichts geworden. 

Seitdem gab es viele globale Stressmomente. Wie bleibst du in solchen Momenten im Alltag motiviert und inspiriert? 

Ich habe durch die Nazizeit, den Krieg und die Vertreibung meiner Familie aus Schlesien sehr früh lernen müssen, dass ich Probleme am besten löse, wenn ich einen kühlen Kopf bewahre und gelassen und unaufgeregt an die Dine herangehe und flexibel bleibe. 

Nach Kriegsende 1945 herrschte extreme Armut und jeder versuchte, durch Tatkraft, Fleiß und Neuorientierung Fuß zu fassen. Auch ich musste mich umorientieren und meinen großen Wunsch, Chemiker zu werden, ziehen lassen. Ich habe mich stattdessen zur Lehrerin ausbilden lassen. Natürlich ist mir das nicht leicht gefallen, aber ich war glücklich, dass ich wieder ein Ziel hatte.

Du bist dann dem Beruf der Lehrerin nachgegangen und hast dich nach der Geburt deiner zweiten Tochter dazu entschlossen, nicht mehr aktiv in der Schule zu unterrichten. Wie stehst du rückblickend zu diese Entscheidung? 

Ich habe zehn Jahre lang als Lehrerin gearbeitet. Aber damals mussten schwangere Lehrerinnen die Schule nach dem 5. Monat verlassen, damit die Schüler ihren schwangeren Bauch nicht sehen konnten. Kurz nach den Geburten ging ich zurück in die Schule, und meine beiden Töchter wurden mehr als drei Jahre lang von einer sehr kinderlieben Frau betreut.

Viele Jahre lang war mein Verdienst höher als der meines Mannes. Doch als er mich mit seinem Gehalt irgendwann überholt hat, haben wir gemeinsam beschlossen, dass ich aufhöre zu arbeiten und mich der Erziehung unserer Kinder zu widmen. Die Zeit mit meinen Töchtern erinnere ich als sehr erfüllend. Ich war schon immer sehr kinderlieb (deshalb ist mit das Lehramt vielleicht so zugeflogen, als Chemikerin hätte ich diese Art von Kontakt mit Menschen ja gar nicht gehabt).

Die Entwicklung der eigenen Kinder z sehen und wirklich mitzuerleben war für mich großartig. Wir haben Spiele gemacht und Ausflüge, zu denen wir die Kinder aus der Nachbarschaft eingeladen haben. Bei uns war immer was los. 

Doch auch während all der Jahre zu Hause hatte ich lange engen Kontakt zu meinen ehemaligen Schülern*innen gehalten. In der Ferienzeit bin ich mit ihnen gemeinsam ins Gebirge gefahren, später wurden mein Mann und ich zu Klassentreffen eingeladen.

Rückblickend waren beide Abschnitte - die Tätigkeit an der Schule sowie die Kindererziehung zu Hause - neben vielen anderen Dingen die schönste, erfolgreichste und glücklichste Zeit meines langen Lebens.

In den Fünfziger Jahren bist du zum ersten Mal Mutter geworden. Damals waren die Geschlechterrollen von der Gesellschaft genau vorgegeben. Erinnerst du dich an eine Wahrheit, die dich überrascht hat, als du selbst Mutter geworden bist? 

Ich war ohne Vorurteil eine glückliche Mutter und bin immer Frau geblieben. Und ich habe mich in meiner Ehe nie eingeschränkt gefühlt.

Später hast du deine Fähigkeiten eingesetzt, um Kindern aus der Nachbarschaft zu helfen und sie zu unterrichten. Überhaupt bist du bis heute sehr engagiert. Du hältst Vorträge, die du selbst schreibst, bist neugierig und wissbegierig - all das spielt, wie wir wissen, eine große Rolle, um gesund zu bleiben und gesund zu altern. Würden du sagen, dass dir dieser Geist in die Wiege gelegt wurde oder entscheidest du dich ganz bewusst für dieses Mindset? 

In Zeiten der Not und in Problemsituationen habe ich meine Fähigkeiten entdeckt und entwickelt, anderen Menschen zu helfen, sie zusammenzubringen, ihnen Erlebnislust zu vermitteln und meine Begeisterung mit ihnen zu teilen.

Schon in der Fluchtsituation während des Krieges - wir waren sechs Wochen lang mit einem Pferdewagen unterwegs - war ich als junges Mädchen für meine Familie so etwas wie eine Leitfigur. Wenn wir durch ein fremdes Dorf kamen, habe ich den jeweiligen Bürgermeister ausfindig gemacht und ein Nachtquartier für uns sowie für die Pferde erbeten. Meine zehnjährige Schwester, die bei einer befreundeten Familie in Dresden unterkommen konnte, holte ich allein per Anhalter und Zug ab, übrigens drei Tage vor dem großen Angriff.

Wie schon beschrieben stand unser Haus immer offen für andere Kinder und Familien und ich habe bis heute große Freude daran Menschen zusammenzubringen und auch mein Wissen und meine Begeisterung mit ihnen zu teilen.

Besonders Frauenschicksale interessieren mich, zu vielen habe ich referiert, sei es Bertha von Suttner, Frida Kahlo oder die Kaiserin Sissi, die viele bloß als die süßliche Kaiserin kennen, dabei hat sie in Wirklichkeit ein ganz anderes Leben geführt und über 600 Gedichte schrieb.

Was das Thema Älterwerden angeht, da folge ich dem Motto von Dieter Hildebrandt: "Man kann das Älterwerden nicht auf morgen verschieben, denn dann wird man bloß noch älter. Deshalb sollte man früh mit dem Älterwerden beginnen, damit man Freude daran hat, trotz einsetzender Altersbeschwerden."

Was hat sich deiner Meinung nach für Mütter und Frauen zum Besseren gewandelt, seit du selbst Mutter geworden bist und wofür müssen wir uns als Gesellschaft weiter einsetzen? 

Eine große Errungenschaft ist sicherlich, dass viele Frauen viel selbständiger und unabhängiger von ihren Partnern sind als in meiner Generation, indem es selbstverständlich ist, dass viele Frauen arbeiten.

Trotzdem haben wir bei Weitem keine Gleichheit. Es wäre wünschenswert, wenn sich irgendwann beide gleichermaßen entwickeln und sich gleichberechtigt im Familienleben einbringen.

Hast du ein Ritual, dem du regelmäßig folgst, das dir hilt geerdet zu bleiben?  

lesen, lesen, lesen und Deutschlandfunk hören (lacht). ich bin nur noch eingeschränkt mobil und verbringe deshalb viel Zeit zu Hause. Meine Töchter versorgen mich mit aktueller Literatur und abends telefoniere ich dann oft mit einer von beiden und wir sprechen darüber oder diskutieren aktuelle Themen. Das gibt mir sehr viel und inspiriert mich.


Wenn du auf dein Leben zurückblickst, auf welche Ereignisse oder Momente bist du bis heute besonders stolz?

Meine Eltern haben es geschafft, mir eine glückliche Kindheit zu schenken, und dafür bin ich unglaublich dankbar. Das hat sicherlich die Grundlage geschaffen und mir die Kraft und Stärke gegeben, schwierige Probleme mit Gelassenheit anzugehen und zu bewältigen. Rückblickend bin ich sehr stolz darauf, dass es mir gelungen ist, meiner eigenen Familie ein harmonisches Leben zu ermöglichen und ich bin sehr stolz auf die Entwicklung meiner zwei Töchter und drei Enkelkinder.

 

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Es gibt viele Möglichkeiten, wie wir in dieser Krise helfen können und selbst der kleinste Beitrag kann eine große Wirkung haben. 

Be an Angel ist eine NGO, die sich um die Flüchtlinge aus der Ukraine kümmert, von denen 90 Prozent Frauen und Kinder sind. Be an Angel bittet um Spenden, um die Flüchtlinge mit Maßnahmen zu unterstützen:

  • Shuttle in der Ukraine für die Flüchtlinge in Deutschland
  • Versorgung von Krankenhäusern mit Arzneimitteln in Odessa, Kiew und Lviv.  
  • Unterkunft und Netzwerk in andere Länder

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